Dienstag, 5. Mai 2015

Speichelschwestern aka Blutsbrüder

Im Internet kursiert aktuell ein Video („The Two Types Of Moms“), in welchem eine hygiene-fanatische Sagrotan-Sprayerin und eine „Drei Löffel Dreck am Tag steigern das Immunsystem“ – Verfechterin um die Wette „muttern“.

Die Ehefrau von Meister Proper hat im Tageslauf einen Desinfektionsmittelverbrauch wie ein städtisches Krankenhaus, wohingegen die Kontrahentin völlig entspannt ihr Kind seine Kekse vom Boden essen und die Haltegriffe in den öffentlichen Verkehrsmitteln ablecken lässt.

Was soll ich sagen – ich war mal „Mom Type One“ -  sogar die meiste Zeit meines Lebens war ich das. Allerdings das Paradoxe daran: ich hatte zu dieser Zeit gar keine Kinder!

Ich gebe es nicht gerne zu, muss aber dennoch gestehen: Ich habe meine Familienmitglieder und meinen Freund/Mann penetrant genötigt, sich beim Nachhause kommen die Hände zu waschen (und zwar „richtig“ und mit Seife und so), ich habe den Griff vom Einkaufswagen mit SOS-Tüchern abgewischt und die Inneneinrichtung der U-Bahn nur mit den Ärmeln oder Handschuhen (nur darum liebe ich den Winter) touchiert.

Es stand für mich außer Frage, Obst vor dem Verzehr gründlich zu waschen und abzureiben, meinen Speichel („aus der gleichen Flasche trinken“) mit maximal zwei bis drei Personen im Universum zu teilen (Freund/Mann, evtl. beste Freundin, vielleicht noch Geschwister) und niemals unter keinen Umständen die Straße („Iiiieehh – Hunde-Pipi überall“) oder die Schuhsohlen zu berühren. Man mag das als übertrieben bewerten. Und es ist womöglich übertrieben.

Als unsere beiden Sonnenscheinchen dann zur Welt kamen – 6 Wochen vor dem errechneten Schlüpf-Datum – ging es mit dem Sauberkeits-Fimmel natürlich erst mal so richtig los. Die beiden verbrachten einige Zeit in ihren klimatisierten Aquarien auf der Neugeborenen-Station und zum ersten Mal mutierte mein Mann ohne mein Zutun zum „Meister der Desinfektion“. Ich war begeistert!

Zum einen waren die süßesten Mäuse der Welt so winzig und so zerbrechlich, dass man einfach nichts riskieren wollte, zum anderen hatte die Neonatologie eine über 50 Punkte umfassende Liste (deren Einhaltung auch strengstens vom Personal überwacht wurde) zur Gewährleistung der klinischen Reinheit  und absoluten Keimfreiheit im Umgang mit den „frischen“ Erdenbürgern.

Die ersten Wochen zu Hause bezeichne ich im Nachhinein betrachtet gerne als eine Art „Übergangs- oder Schonzeit“. Wir desinfizierten uns tagsüber ab und zu die Hände, überreichten den Gästen bei Erkältung an der Tür anstatt der Gästeschlappen einen Mundschutz (im stillen Gedenken an Michael Jackson) und sterilisierten 3x täglich die Fläschchen und Nuckis der Mäusezähnchen MZ 1 und
MZ 2 (die damals noch keine Mäusezähnchen hatten und waren).

Soweit so gut. Der Umbruch kündigte sich zaghaft an, als die Kinder begannen immer mobiler zu werden und sich nicht mehr darum zu kümmern, welche Flasche wessen war oder welcher Schnuller wem gehörte. Nachdem ich es sowieso nicht verhindern konnte, dachte ich mir irgendwann: „Na gut, sie sind Schwestern – "es" bleibt zumindest in der Familie“ und fand mich eben damit ab. Der Begriff „Speichel-Schwestern“ (analog zur etwas altmodischeren „Blutsbruderschaft“) kristallisierte sich heraus.

Die regelrechte Anarchie in Sachen Sauberkeit brach mit dem Krabbel-Alter aus. Einher geht das Krabbelalter ja auch mit einem extremen Forscherdrang: Oh Graus – fremde Münder, fremde Zähne, fremde Nasen und fremde Füße und ZEHEN werden eingehend untersucht, die Mama schüttelt es schon allein beim Gedanken daran, in einer Stunde so viel Kontakt mit unterschiedlichsten Körperteilen und -flüssigkeiten zu haben, wie normalerweise ein Allgemeinarzt (wahlweise HNO-Arzt) an einem durchschnittlichen Vormittag (Wartezimmer überfüllt).

In der Krabbelgruppe rotieren die Viren (rotzige und angesabberte Spielsachen machen die Runde zwischen 15-20 Kindern), im Babyschwimmen kriechen 10 nackte Würmer nacheinander über die gleiche Wickelmatte, über die zuvor schon 20 Elternteile barfuß (das sind 40 Füße!) gelatscht sind und vom Schwimmbecken möchte ich erst gar nicht anfangen. Da bekomme ich schon vom Erzählen juckenden Ausschlag im Windelbereich.

Zu Hause wird das Treppenhaus erforscht, sobald die Wohnungstür auch nur  für 10 Sekunden und 10 cm breit offen steht. Bevorzugt wird auf dem Schuhabtreter (!) gespielt und alle Schuhe werden fleißig umgedreht und wahlweise abgeleckt oder angeknabbert. Der Toilettendeckel wird hoch- und wieder runtergeklappt, die Mülleimer (ja, auch der Windeleimer) geleert und alles, was in den Mund passt (oder auch nicht), wird probiert. Hemmungslos.

An dieser Stelle stellten sich mir nun zwei Optionen: Durchdrehen oder Akzeptieren. Nachdem ich wochenlang kurz vor der ersten Möglichkeit stand, setzte sich nach und nach die „zweite Wahl“ (in jeder Hinsicht) durch. Es ist schlicht nicht machbar, als einzelner, völlig übermüdeter und überarbeiteter „Mombie“ (Kreuzung zwischen Mom und Zombie) aufgeweckten, entdeckungslustigen Zwillingen jederzeit und überall gleichzeitig hinterher zukommen, hinterher zu räumen und vorneweg zu putzen. Es geht nicht. Punkt.

Nachdem unser XXL-Laufgitter von Anfang an nur installiert war, damit die Tonnen von Spielzeug einen Platz haben, wo sie nachts „schlafen“ – jeder Versuch, die „Stalltüre“ zu schließen (MZ 1 und MZ 2 dabei innerhalb der Umzäunung) mit größter und langanhaltender Verachtung den "Eltern-Tieren" gegenüber gestraft wurde, war der „cleane“ Kinderbereich innerhalb der Wohnung für uns auch keine praktikable Lösung.

Ganz abgesehen, schaffen es die Kinder sowieso in Nullkommanix, aus „Nichts“ Dreck zu schaffen. Viel Dreck. Dreck für alle. Dreck zum Tauschen. Dreck zum Verschmieren. Dreck zum Essen. Dreck für alles. Notfalls übergeben sie sich eben oder über-portionieren den Inhalt der Pampers. Voilà!

Ja diese kleinen Schmuddel-Monster teilen ihr "Futter" (oder das, was sie dafür halten) großzügig mit Gott und der Welt – ebenso wie ihre Körperflüssigkeiten und Bakterien, sie essen Sand und Erde (man muss schon wirklich dankbar sein, wenn sie keinen Hundekot oder Kippen erwischen), kennen keinen Ekel, kein Schamgefühl, keine Vorurteile und kein „Stop“ (und wenn, dann nur vom Hörensagen) – dafür aber Neugier ohne Ende!

Das ist der Grund, warum ich resigniert habe. Warum ich mich nun dazu bekenne, nach langen Anlaufschwierigkeiten meinerseits, eher den "Type Two Moms“ anzugehören. Ich hatte schlicht und ergreifend keine Chance!
Wer das Gegenteil behauptet, lügt. 


 

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